Armut ist im Dorf noch härter.
10.04.2010 22:38HAZ/VON THORSTEN FUCHS. Bedürftige scheuen den Gang zur Essenstafel / EKD-Studie zeigt Problemlagen auf dem Lande.
Hannover. Die Idylle trügt: In den ländlichen Gebieten Niedersachsens leiden in Armut lebende Menschen erheblich unter Ausgrenzung und Stigmatisierung – und nehmen aus Scham weniger Sozialleistungen in Anspruch als ihnen zustehen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die heute in der Evangelischen Akademie Loccum offiziell vorgestellt wird.
Sie fühlten sich in ihren Dörfern „wie Aussätzige behandelt“, berichten HartzIV-Empfänger in der Studie mit dem Titel „Armut und Scham“. Für die Untersuchung befragten die Diakoniewissenschaftlerin Marlis Winkler und die Pastorin Anna Küster neben Sozialarbeitern und Kirchenmitarbeitern auch 30 Betroffene aus den Landkreisen Aurich, Cuxhaven, Lüchow-Dannenberg, Nienburg und Uelzen. Bei vielen von ihnen ist die Scham so groß, dass sie den Gang zu Lebensmitteltafeln oder Ämtern scheuen, um in ihren Dörfern nicht als arme Menschen erkannt zu werden.
„Ich habe mich jedes Mal umgesehen, ob da keiner ist, der mich sieht“, berichtet eine 63-Jährige über ihren Weg zu einer Kirchengemeinde, in der Lebensmittel für Bedürftige ausgegeben werden. Viele Arme erleben den engen sozialen Kontakt in den Dörfern offenbar nicht als hilfreich, sondern als bedrückend. Für Arme sei die Situation auf dem Land eindeutig schlimmer als in der Stadt, erklärt eine 30-jährige Mutter von vier Kindern: „Hier weiß jeder von jedem, was er für eine Unterhose trägt.“ Ein 29-Jähriger schildert die Erfahrung, dass „normale Leute, die nicht Hartz IV beziehen, Abstand halten“.
Als besonders belastend erleben Betroffene oftmals auch die mangelhafte Anbindung durch Busse und Züge. Menschen auf den Dörfern berichten von einem erheblichen inanziellen und zeitlichen Aufwand, um zum Arzt, zur Schule oder zum Einkaufszentrum zu gelangen. Um einen Vorstellungstermin in der nächsten Stadt wahrnehmen zu können, habe er eine Reisezeit von sieben Stunden in Kauf nehmen müssen, sagt ein 24-Jähriger.
Mit der Studie, die auch als Buch erscheinen soll, betreten die Autorinnen weitgehend Neuland. Bislang gibt es kaum Untersuchungen über Armut auf dem Land. Als politische Konsequenz empfehlen sie unter anderem einen Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs. „Von Armut bedrohte Menschen in ländlichen Regionen müssen teilhaben können an gesellschaftlichen Prozessen“, fordert der Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Prof. Gerhard Wegner.
Hilfreich wäre laut der Studie auch ein noch stärkeres Engagement der Kirchengemeinden, denen vor allem bei der Unterstützung von Familien hohe Kompetenz unterstellt wird. Sinnvoll sei zudem, die Betroffenen selbst mit einzubeziehen: „Die von Armut bedrohten Menschen auf dem Lande haben klare Vorstellungen, wie sich ihre Situation verbessern kann“, erklärt Winkler. So schlügen die Betroffenen zum Beispiel Nachhilfeangebote von Kirchengemeinden, Fahrdienste in der Ferienzeit und Musikunterricht vor.
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