Eine abgehängte Welt.
28.07.2009 07:32Leben in der Unterschicht: Julia Friedrichs' Reportagen band über Armut in Deutschland.
Von Jutta Rinas.
Eine kommt durch. Eine Einzige. Andrea, Tochter eines resignierten Hartz-IVEmpfangers und Absolventin einer Förderschule, schafft den Sprung aus einer von Arbeitslosigkeit und Armut geprägten Welt ins Berufsleben. Sie bekommt einen Ausbildungsplatz bei einem Fünf-Sterne-Hotel. Es ist die wohl bedrückendste Erkenntnis aus dem Reportagenband „Deutschland Dritter Klasse" von Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt, dass nicht einmal dieser hoch motivierten 17-Jährigen ein solcher Sprung mithilfe einer der vielen Fördermaßnahmen der Hartz-IV-Reform gelingt. Andrea bekommt ihre Lehrstelle, weil ihre Geschichte auch im Fernsehen lauft — und die von dem Optimismus und der Leistungsbereitschaft der Forderschülerin beeindruckten Llotelmanager ihr eine Chance geben wollen.
Vier Jahre lang haben die freien Reporter Friedrichs (die mit ihrem ersten Buch „Gestatten: Elite" einen Bestseller landete), Müller und Baumholt Menschen begleitet, die in Deutschland am Rande des Existenzminimums leben. Es sind einige dabei, die fast schon verzweifelt versuchen, mit dem „Leben in der Unterschicht" (so der Untertitel des Bandes) zurechtzukommen oder ihm gar zu entrinnen. Reinhanl Zetsche, der in der DDR bei der Nationalen Volksarmee arbeitete — und nach der Wende nur noch als Wachmann in Leipzig untergekommen ist. Pro Stunde verdient er 4,85 Euro brutto,. Konsumgesellschaft Deutschland?
Das gibt es für ihn nicht. Jeder Cent zählt, wenn fürs Essen täglich gerade mal 2,50 Euro zur Verfügung stehen. Da ist Heidemarie Danzer aus Berlin, die im Schnitt für 3,68 Euro in der Stunde Essen ausfährt, weil sie keinen anderen Job findet. Da sind die Leiharbeiter Uwe Kahl und Christian Sonnenbaum, die nach Jahren bei Randstad oder Alanpower den Eindruck gewonnen haben, dass es für sie in der Arbeitswelt keinen anderen Platz als den jetzigen geben wird: Trotz großen Engagements werden sie nicht übernommen.
Es ist ein bitteres Fazit dieses Buches, dass die Grenzen zwischen Durchschnittsverdienern und armen Menschen, zwischen Arbeitnehmern in festen Stellungen und Arbeitslosen, Billig- oder Leiharbeitern in Deutschland undurchlässig geworden sind. Für diejenigen, die aus Hartz-IV-Familien stammen, gibt es oft kaum eine Chance, sich überhaupt in die Gesellschaft einzufädeln. Die Menschen der Unterschicht leben in einem Paralleluniversum, in dem man mit Lebensmittelgutscheinen einkauft, in dem es „soziale Warenhäuser" gibt, in denen Lebensmittelspenden verkauft werden. Für Jugendliche hat diese abgehängte Welt keine realen Ausbildungsplätze mehr zu bieten, sondern Förderprogramme mit komplizierten Namen: EQJ (Einstiegsqualifizierung für Jugendliche), BvB (Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen) oder TAIK (Trainingsmaßnahme mit Kenntnisvermittlung). Fast drei Jahre hat A'lustafa schon solche „Maßnahmen" besucht. Bei Arbeitgebern zähle das nichts, sagt er. Ob er glaube, dass das Arbeitsamt ihn einmal in eine echte Stelle vermitteln könne: „Auf keinen Fall"
Der Direktor der Fröbelschule Wattenscheid, Christoph Graffweg, hat auf die staatlich geförderte Arbeitswelt ebenso unkonventionell wie illusionslos reagiert. Statt normaler Lerninhalte hat er die wahrscheinliche Zukunft seiner Förderschüler zum Schulstoff gemacht Im Fach „Hartz IV" werden Prospekte der Discounter nach preiswerten Frühstückszutaten durchsucht oder es wird eine 40-Quadratmeter-Wohnung auf den Schulhof gemalt, damit die Kinder lernen, wo sie sich später einzurichten haben. Mehr als 40 Quadratmeter Raum gesteht der Staat einem Hilfebezieher nicht zu. Es sind die vielen Details, die vielen Facetten des Lebens in der Unterschicht, die dieses Buch (kombiniert mit klugen Sachinformationen) zu einem ebenso aussagekräftigen wie bedrückenden Reportagenband machen.
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